
Automatisierung zwischen Effizienz und Irrsinn
Digitalisierung
Komplexität
KI
Zukunftsfähigkeit
Ich liebe Technik. Ich bin von Herzen Radio- und Fernsehtechniker. Mein Zuhause ist eine Spielwiese aus Sensoren, Aktoren und Teilautomatisierungen. Meine Klimaanlagen schalten sich unter bestimmten Voraussetzungen automatisch ab. Die Heizungen werden geregelt und lassen sich mit einem Knopfdruck zentral abschalten. Wirklich sinnvoll ist das automatisierte Vorgehen beim Öffnen der Fenster.
Aber: Das Licht schalte ich manuell, die Rollläden auch. Die Klimaanlagen werden von Hand eingeschaltet.
Weil es eben nicht zuverlässig funktioniert, wenn lineare Ideen auf die komplexe Realität treffen.
Viele begeisterte Hobby-Automatisierer und Home-Assistant-Freaks haben in den letzten Jahren große Teile ihrer Installationen zurückgebaut. Warum? Weil es einfach nicht funktioniert. Die Automatisierung läuft der Realität oft hinterher, statt ihr voraus zu sein.
Weil jeder Tag anders ist. Heute arbeite ich von zu Hause, morgen bin ich unterwegs. Mal ist Besuch da, mal brauche ich Ruhe. Wenn sich die Rollläden jeden Tag um 7:00 Uhr öffnen, weckt mich das an unterschiedlichsten Tages viel zu früh. Wenn sie sich bei Sonnenuntergang schließen, sitze ich plötzlich im Dunkeln.
Und wie oft das schiefgeht, zeigen Anekdoten wie diese: Menschen, die sich aus ihrer Wohnung aussperren, weil sie auf dem Balkon saßen – und die Rollläden sich planmäßig schlossen. Der Algorithmus hatte die Person nicht „gesehen“. Er hatte nur gemessen, dass Die Rollläden offen geöffnet waren – nicht warum, mit welcher Absicht.
Teilintelligenz reicht nicht aus
Das zeigt sich auch bei sogenannten „Agentensystemen“ oder KI-gestützten Automatisierungen, die derzeit als Heilsversprechen durch jede zweite Management-Präsentation geistern. Sie werden beworben als Entscheidungshilfe, als Entlastung, als Turbo für Effizienz. Und ja – diese Systeme können beeindruckende Dinge tun. Sie sind teilintelligent. Sie können auf Basis von Daten Muster erkennen, Abläufe durchspielen, Wahrscheinlichkeiten berechnen. Dennoch: Sie verstehen keinen Kontext.
Ein Agentensystem weiß vielleicht, dass ein Fenster geöffnet wurde und die Temperatur fällt. Aber es weiß nicht, ob gerade ein Workshop stattfindet, jemand mit Erkältung im Raum sitzt oder die Frischluft gerade wichtiger ist als Heizkosten. Um kluge Entscheidungen zu treffen, reicht es nicht, wenn Systeme „Daten auswerten“. Sie müssen verstehen. Und das ist ungleich schwerer. Es ist der Unterschied zwischen „wissen, dass jemand da ist“ und „verstehen, warum er da ist“.
Oder anders gesagt: Auch ein smarter Agent kann dir die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn du gerade draußen auf dem Balkon bist – weil er nicht versteht, dass du noch draußen bist.
Automatisierung ist nicht per se schlecht
Es gibt zahlreiche Einsatzszenarien, in denen vollautomatische Prozesse – auch auf Basis von Agentensystemen – absolut sinnvoll sind. Überall dort, wo menschliche Arbeit nicht direkt betroffen ist, wo Prozesse standardisiert, kontrollierbar und ohne hohe Kontextabhängigkeit ablaufen, entfalten diese Systeme ihre Stärken.
Beispiele?
- In Rechenzentren, wenn Server je nach Auslastung automatisch hoch- oder runtergefahren werden.
- In der Logistik, wenn autonome Systeme Lagerbestände erfassen und Nachschub anstoßen.
- In der industriellen Fertigung, wo Maschinen ohne Unterbrechung und mit höchster Präzision Bauteile montieren.
- Oder im Energiemanagement, wenn Agenten tageszeit- und wetterabhängig Stromflüsse regulieren.
In all diesen Fällen sind Prozesse so gut modellierbar, dass Automatisierung echte Effizienz bringt – gerade weil keine situative, menschliche Einschätzung nötig ist.
Doch sobald menschliche Interaktion, situative Entscheidungen oder soziale Dynamiken ins Spiel kommen, wird es schwierig. Agenten, selbst wenn sie auf große Datenmengen zugreifen, scheitern oft daran, den vollen Kontext zu erfassen.
Kontext entsteht durch Bedeutung – und die ist selten objektiv messbar.
Vom Wohnzimmer ins Unternehmen: Der Automatisierungswahn
Genauso erlebe ich es in Unternehmen. Immer wieder sehe ich aufwändig gebaute Prozesse, Automatisierungen und Workflows – meist in Tools wie Jira, Confluence oder Asana. Mit viel Mühe wird ein "perfekter" Ablauf modelliert: Wer macht was wann, welcher Status triggert welche Mail, welche Freigabe muss durch wen erfolgen.
Klingt nach Effizienz? In Wahrheit zementiert es den Status quo.
Ein Beispiel: In einem Projektteam wurde jeder Feature-Request in 12 Stati überführt. Jeder Status hatte Regeln. Ein Ticket durfte nur weitergereicht werden, wenn bestimmte Felder ausgefüllt, bestimmte Personen informiert und bestimmte Anhänge beigefügt wurden. Das Team verbrachte mehr Zeit damit, Jira richtig zu bedienen, als am Produkt zu arbeiten. Und wehe, jemand wollte abkürzen oder improvisieren: "Das geht nicht, der Prozess sieht das nicht vor."
Automatisierung als Verantwortungsvermeidung
Diese "Prozesse" werden oft verkauft als Sicherheit, Klarheit, Effizienz. In Wirklichkeit sind sie oft ein Versteck: "Ich würde ja anders entscheiden, aber der Prozess schreibt das so vor." Verantwortung wird an die Automatisierung delegiert. Doch Maschinen tragen keine Verantwortung. Menschen schon.
Automatisierung reduziert Wahlmöglichkeiten. Sie macht uns berechenbar – in einer Welt, die sich genau dem widersetzt.
Oder wie es der Kybernetiker Heinz von Foerster gegensetzlich formulierte:
"Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird."
Der Weg aus dem Automatisierungswahn
Was also tun? Sollten wir Automatisierung verteufeln? Nein. Sie hat ihren Platz – dort, wo Prozesse wirklich stabil sind. In der Lohnabrechnung. Beim Backup. In der Rechnungsstellung.
Aber nicht in der Zusammenarbeit, nicht in der Innovation, nicht im Umgang mit Komplexität.
Dort brauchen wir andere Prinzipien:
- Gestaltungsspielraum statt Vorgabenkorsett: Ermögliche es Menschen, selbst zu entscheiden, wie sie Ziele erreichen.
- Klarheit über Verantwortung: Wer entscheidet? Wer darf abweichen? Wer übernimmt?
- Leitplanken statt Straßenplan: Gebt Orientierung, aber keine starren Wege vor.
- Feedback statt Freigabe: Redet miteinander, statt Checklisten abzuhaken.
- Regelmäßige Prozessreflexion: Nicht das Tool ist schuld. Aber wir sind verantwortlich, wie wir es einsetzen.
Teilautomatisierung als Antwort
Die Realität ist zu dynamisch für starre Systeme, und zu komplex, um alles manuell zu steuern. Die Lösung liegt in einer effektiven Teilautomatisierung: Werkzeuge, die klar definierte Aufgaben übernehmen – aber flexibel, auf Zuruf, situationsabhängig. Nicht der Prozess bestimmt den Menschen, sondern der Mensch den Einsatz des Werkzeugs. In Unternehmen sind oft 60–80 % der Abläufe wiederkehrend – und genau hier kann Automatisierung unterstützen. Die restlichen 20–40 % brauchen Intuition, Abwägung, Augenmaß. Wer das trennt, gewinnt Handlungsspielraum – und bleibt zukunftsfähig.
Zum Schluss ein Gedanke
Vielleicht brauchen wir weniger automatisierte Prozesse. Und dafür mehr automatisiertes Vertrauen in die Menschen, die damit arbeiten.
Denn in einer Welt, die sich täglich ändert, ist Flexibilität kein Bonus. Sie ist Überlebensnotwendig.