Fish is Fish - Was ein Kinderbuch über Organisationsentwicklung lehrt

Fish is Fish - Was ein Kinderbuch über Organisationsentwicklung lehrt

Michael Schiller
July 01, 2024 · 5 minutes read
Kommunikation Komplexität
Vor Jahren saß ich in einem Bewerbungsgespräch, das zunächst richtig gut verlief. Einer der Interviewer hatte mich nach einem ersten Gespräch, wir kannten uns über ein Netzwerk, eingeladen und wir saßen nun zu zweit dem Chef gegenüber. Wir haben uns fantastisch unterhalten und ich hatte das Gefühl, dass wir uns gut verstanden. Mit der Zeit irritierten mich einige Aussagen, bis zu dem Zeitpunkt, in dem ich nochmal aktiv nachfragte, um welche Position es hier gerade geht. 
Wir mussten feststellen, dass wir absolut aneinander vorbei geredet hatten, was beim Chef ziemliche Blitze in den Augen ausgelöst hatte. Ich wollte dann doch lieber schnell raus, das war definitiv nicht mein Unternehmen. 

Kommunikation ist ein Biest. Wo es schief gehen kann, geht es auch schief.

Und ich habe mich lange gefragt, warum eigentlich? Und immer wieder unterschiedlichste Gründe gefunden. Einer sticht jedoch besonders heraus: Konstruktivismus.
Fish is Fish. Oder wie sich ein Fisch eine Kuh vorstellt, brueckenbauenblog[2]
Ein Frosch versucht dem Fisch zu erklären, wie eine Kuh aussieht. Und natürlich sieht der Fisch vor seinem geistigen Auge nur einen Fisch - mit Euter und Hörnern. Was soll er auch anderes sehen: er ist Fisch-sozialisiert, er kennt nur seine Welt. 
Hier gibt es die komplette Geschichte animiert. 
 Der brueckenbauenblog bringt es im Artikel auf den Punkt: 
 Diese kleine Geschichte bringt es wirklich schön auf den Punkt, worum es beim Konstruktivismus geht: Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugriff auf die objektive Realität. D.h. wir können also nie die „wirkliche“ Beschaffenheit der Dinge erkennen, sondern immer nur das, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen und dann vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen interpretieren. Wir können uns also im Prinzip nur das vorstellen, was wir schon kennen. So wie unser Fisch. Er hört von seinem Freund dem Frosch wie eine Kuh aussieht und stellt sich dann mit Hilfe seiner Erfahrungen vor wie eine Kuh wohl aussieht. 
 Konstruktivismus? Puh. Hier[3] mal eine kurze Erklärung.

In Kurz: Meine Sozialisierung, Erfahrungen, Entwicklungen und Möglichkeiten sorgen dafür, dass ich die Welt anders wahrnehme als andere.

Mir persönlich hatte diese Erkenntnis die Augen geöffnet. (Und mich fast in eine Sinnkrise gestürzt.) Mir ist klar geworden, dass ich es gar nicht schaffen kann, Menschen mit meinen Worten, meinem Verständnis, meiner Sicht auf die Welt etwas näher zu bringen, das sie so noch nie erlebt haben. 
Bezogen auf Veränderungsprozesse und Organisationsentwicklung in Unternehmen bedeutete das, dass ich als Agile Coach kaum etwas ausrichten kann, sofern ich nicht eine starke soziale Führung oder das explizite (disziplinarische) Mandat habe, damit Menschen folgen, ohne dass sie den Weg verstanden haben müssen. 
Ein Beispiel: Nehmen wir an, dein Unternehmen möchte aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen vom Projektgeschäft weg. Zu volatil ist der Markt, zu groß die Abhängigkeiten. Es hat sich entschieden, auf Produktentwicklung zu setzen und fängt an, ein eigenes Produkt agil zu entwickeln und groß zu machen. 
Und dennoch zündet es nicht richtig. Der Grund liegt oft darin, dass klassisches Projekt-Geschäft und Produktentwicklung komplett unterschiedlichste Herangehen verlangen. Die folgliche Vermischung beider Welten ist tendenziell schwierig. Dieser Artikel erklärt den Unterschied zwischen Projekt- und Produktentwicklung herausragend. Prädikat: sehr lesenswert. 

Solange ich innerhalb meines alten Erfahrungsraums agiere, werde ich immer auch dessen Lösungsansätze nutzen. Ich werde immer einen Fisch sehen, in Kombination mit Euter.

Das kann auch funktionieren, ohne Frage. Es ist nur keine Produktentwicklung, wenn letztendlich auf Basis eines Produktes weiterhin die eigentliche Wertschöpfung in Form eines Projektes erfolgt. In der Konsequenz werden strukturelle, organisatorische Rahmenbedingungen und Ausrichtungsanpassungen nicht mit der nötigen Tiefe angegangen, da sie nicht als notwendig erachtet oder gar nicht verstanden werden. 
Beispielsweise: Richte die Entwicklung und Backlog-Priorisierung konsequent auf echten Kunden, auf die Kundengruppe aus. Verändere deine Ansprache im Markt: Weg vom "wir können das" hin zu "hier ist die Lösung für dein Problem". Sorge für UX (Research) Kompetenz im Entwicklungsteam. Du kannst schließlich niemanden mehr in einem Onboardingschritt eines Projektes die Benutzung deines Produktes detailliert erklären... 
Die oft subtilen aber notwendigen Unterschiede in Haltung, Verhältnisse und Verhalten sind als Berater nicht wirklich erklärbar, selbst wenn alle mit dem Kopf nicken und zustimmen. Es bleiben Appelle, von denen man inständig hofft, mit der richtigen zielgruppenspezifischen Sprache eine Resonanz und ein Vertrauen in dich und ein Zutrauen für ein neues Herangehen zu erzeugen. 
Ein anderes Beispiel: Vor Jahren habe ich in einer Coaching Session einem Manager als Hausaufgabe mitgegeben, sich bewusst mal Auszeiten zu nehmen, Spare-Time, sich nicht im Operativen zu 100% zu vergraben. Sich bewusst Zeit zu nehmen für die eigene Standortbestimmung, für Weitblick, Abstand und die eigene Einordnung, ob er überhaupt in die richtige Richtung arbeitet, für sich und das Unternehmen. 
Die Hausaufgabe hatte er nicht gemacht, die Intervention hat dennoch ihr Ziel erreicht. Ca. ein Jahr später kam er auf mich zu und meinte, dass er jetzt verstanden hat, was ich von ihm wollte und dass ihm das sehr geholfen hatte. Er hatte aufgrund von veränderten strategischen und organisatorischen Rahmenbedingungen plötzlich zwangsweise mehr Raum und Zeit für sich und schien sich an unser Coaching Gespräch erinnert zu haben. 

Meine Erkenntnis 

Appelle funktionieren nicht mit der heute notwendigen Geschwindigkeit. Menschen müssen ERLEBEN, erst dann können sie verstehen. Du kannst niemanden durch Reden zu einer Verhaltensveränderung bewegen. Auch Spiele schaffen es nicht hinreichend, da sie die Erlebnisse an ihre Arbeitsrealität festmachen müssen. 
Dein Job als Organisationsentwickler ist letztendlich, diesen Erlebnisraum zur Verfügung zu stellen. Dazu passt ein Spruch, den ich hier auf LinkedIn in einem Profil gesehen habe: Verhältnisse schaffen Verhalten.
Schaffe andere Verhältnisse, verändere die systemischen Rahmenbedingungen und lade Menschen ein. Notfalls gehe vor und sorge damit für psychologische Sicherheit. 
Organisationsentwicklung braucht dafür das für den Kontext größtmögliche Mandat (und Budget), um wirksam zu sein.
Kaufe ein großes Glas, packe den Fisch rein und nimm ihn mit auf Land. Dann kann er sich selbst ein Bild von der Kuh machen. Und mute ihm das auch zu, er schafft das. 

Btw, etwas später habe ich diese Erkenntnis mit Spiral Dynamics kombiniert. 

Quellen