Das Bild zeigt eine abstrakte Darstellung mit vereinzelten türkisen Punkten auf weißem Grund. Zentral ist ein lilafarbenes Dreieck mit den Eckpunkten "Innovation", "Digitalisierung" und "Agilität", verbunden mit "Komplexität" und "Entscheiden". Die Anordnung wirkt vernetzt und suggeriert ein thematisches Beziehungsgeflecht. Die Atmosphäre ist sachlich und analytisch.

Das Projekt als geschlossenes System

Michael Schiller
14. November 2024 · 7 Minuten Lesezeit
Komplexität Agilität Scrum
Stell dir vor, du bedienst eine Waschmaschine. Ein scheinbar simples Gerät, doch in Wahrheit ein komplexes Zusammenspiel von Energie (Strom, Wasser, Waschmittel), Zeit (Waschdauer), Menge (Wäschevolumen) und Qualität (Waschergebnis). Du möchtest Energie sparen? Dann verlängert sich die Waschzeit. Du möchtest mehr Wäsche waschen? Entweder du investierst mehr Zeit, z.B. in einen weiteren Lauf, oder die Qualität der Wäsche leidet.
Diese einfachen Interdependenzen sind nicht nur in der Physik, sondern auch im Projektmanagement allgegenwärtig. Sie verdeutlichen eine grundlegende Realität: Projekte sind geschlossene Systeme. Diese systemimmanente Eigenschaft – also die Tatsache, dass die Elemente eines Systems untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen – bestimmt die Realität jedes Projekts.
Betrachten wir ein Projekt abstrahiert, erkennen wir ein Rechteck mit vier Eckpunkten: Ressourcen (Budget, Aufwand), Zeit (Projektdauer), Umfang (Scope) und Qualität (Ergebnisqualität). Optimierst du eine dieser Variablen, hat das unweigerlich Auswirkungen auf die anderen. Es ist wie bei einem Band zwischen deinen Fingern: Ziehst du an einer Stelle, verändert sich das ganze System. Du kannst die Effizienz innerhalb dieser Grenzen optimieren, aber nicht außerhalb. Dieses Konzept ist nicht nur in der Physik relevant, sondern auch für die Gestaltung von Projekten. Als Projektmanager:in solltest du dieses Zusammenspiel verstehen und berücksichtigen. Das bedeutet, dass es systemimmanent ist, dass jede Änderung einer Komponente Auswirkungen auf andere hat. Diese Einsicht ist der erste Schritt zu einem realistischen Projektmanagement.

Das Projekt als geschlossenes System

Im Projektmanagement ist es ähnlich. Stell dir vor, du leitest ein Softwareprojekt. Dein Auftraggeber wünscht sich viele neue Funktionen (Umfang), schnell (Zeit) und in höchster Qualität (Qualität). Gleichzeitig ist das Budget (Ressourcen) begrenzt. Du kannst diese Parameter versuchen zu optimieren, doch eine Verbesserung einer Variable führt meist zu einer Verschlechterung einer anderen. Eine Ausweitung des Scopes bei gleichbleibender Zeit und Qualität erfordert entweder mehr Ressourcen oder führt zu geringerer Qualität. Dieses Spannungsverhältnis macht Projektmanagement so anspruchsvoll und verdeutlicht, dass Projekte immer in einem Spannungsfeld von Zielen und Einschränkungen agieren.
Dieses Verständnis ist entscheidend für realistische Projektplanung. Anstatt unrealistische Erwartungen zu hegen – schnell, billig und perfekt – solltest du dir bewusst sein, dass diese Parameter nicht isoliert betrachtet werden können. Sie sind verbunden und bedingen einander. Die Kunst des Projektmanagements liegt darin, ein ausgewogenes Verhältnis zu finden, das den Projektzielen und den Rahmenbedingungen entspricht. Das bedeutet auch, dass du mit deinem Team und dem Kunden offen über diese Abhängigkeiten kommunizierst. Es geht darum, die systembedingten Grenzen zu verstehen und innerhalb dieser zu agieren. Eine transparente Kommunikation ist der Schlüssel, um ein gemeinsames Verständnis der Grenzen zu schaffen.
Ein Praxisbeispiel: Ein Unternehmen plant die Entwicklung einer Mobile App. Es gibt ein knappes Budget und einen engen Zeitplan. Will man alle vom Marketing gewünschten Features implementieren, leidet entweder die Qualität oder der Zeitplan wird nicht eingehalten. Die Projektleitung muss nun Prioritäten setzen und mit den Stakeholdern entscheiden, welche Features essenziell sind. Das ist ein klassischer Fall des Zusammenspiels der vier Parameter eines geschlossenen Systems. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hier in der bewussten Entscheidung, welche Kompromisse eingegangen werden müssen.

Agile Prinzipien als Lösungsansatz

Agile Methoden bieten einen Rahmen, um mit diesen Beschränkungen umzugehen. Sie verstehen diese Dynamik und setzen an den richtigen Stellen an, um Projektziele innerhalb der gegebenen Grenzen zu erreichen. Agile Methoden erkennen die Komplexität an und bieten Werkzeuge, um damit umzugehen. Hier sind drei agile Prinzipien, die besonders relevant sind:

1. Fokus auf Effektivität statt reiner Effizienz: "Weniger ist mehr"

Im Waschmaschinenbeispiel: Weniger Wäsche ermöglicht eine kürzere Waschzeit bei gleichem Ergebnis. Auf Projekte übertragen: Konzentriere dich auf die wirklich wichtigen Aufgaben. Das agile Prinzip der "Einfachheit" ist hier zentral: "Einfachheit, die Kunst, nicht getane Arbeit zu maximieren, ist essenziell" (Agiles Manifest)[1]. Konzentriere dich auf die wertvollsten Features und lasse alles andere weg. Es geht darum, die verfügbaren Ressourcen effektiv einzusetzen und den Fokus auf das zu legen, was den größten Wert liefert. Der Schlüssel zur Effektivität liegt in der Reduktion von unnötiger Komplexität und unsinniger Arbeit - also in der Vorbereitung und im gemeinsamen Denken und Handeln.
Viele Dinge sind wichtig, aber wenige sind essenziell.
Beispiel aus der Praxis: In einem Softwareprojekt konzentriert man sich zuerst auf das Kernprodukt (Minimum Viable Product, MVP). "Nice-to-Have"-Features werden auf spätere Iterationen verschoben. Durch diesen Fokus werden Ressourcen effektiver eingesetzt und die Wahrscheinlichkeit erhöht, das Projekt im Zeit- und Budgetrahmen abzuschließen. Die systembedingte Begrenzung zwingt zur Priorisierung und führt zu einer effizienteren Ressourcennutzung. Diese bewusste Entscheidung für das Wesentliche ist ein wesentlicher Bestandteil agilen Denkens.

2. Iteratives und inkrementelles Vorgehen: "Sich der Ziellinie schrittweise nähern"

Agile Teams zerlegen Projekte in kleine, überschaubare Arbeitspakete. In jedem Sprint wird ein funktionierendes Inkrement des Produkts geliefert, das in Feedback-Schleifen getestet und angepasst wird. Du gibst deiner "Waschmaschine" also nicht die gesamte Wäsche auf einmal, sondern wäschst Stück für Stück. Dies ermöglicht eine frühe Validierung und Anpassung an veränderte Kundenbedürfnisse und minimiert das Risiko von Fehlentwicklungen. Durch diese Flexibilität reagierst du schnell auf Veränderungen. Iteratives Vorgehen erlaubt es, den Kurs kontinuierlich an neue Erkenntnisse anzupassen und ist eine effektive Methode, um mit Unsicherheiten umzugehen.
Beispiel aus der Praxis: Statt zu versuchen, eine komplexe Software in einem einzigen Schritt zu entwickeln, wird die Entwicklung in kleine Sprints unterteilt. Jeder Sprint liefert ein funktionsfähiges Softwaremodul, das vom Kunden getestet wird. Dies ermöglicht es, frühzeitig Feedback zu erhalten und das Produkt kontinuierlich zu verbessern. Dies ist eine direkte Reaktion auf die Unsicherheiten und dynamischen Anforderungen. Dieser iterative Prozess hilft, das Projekt besser zu steuern und Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen.

3. Enge Zusammenarbeit mit dem Kunden und transparentes Vorgehen

Der direkte Draht zum Kunden ist entscheidend, um sicherzustellen, dass die wirklich relevanten Probleme gelöst werden. Ein tiefes Problemverständnis, gepaart mit klaren Entscheidungsbefugnissen im Team, ist das Fundament für agiles Projektmanagement. Dies ermöglicht es, schnell auf Veränderungen zu reagieren und den Scope dynamisch anzupassen. Es geht darum, den Kunden nicht nur nach Zufriedenheit zu fragen, sondern ihn zu beobachten, sein Verhalten zu verstehen und dadurch die eigentlichen Bedürfnisse und Probleme zu erkennen – das Problem hinter dem Problem. “Die höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen” (Agiles Manifest). Die enge Zusammenarbeit ist essenziell, um die Komplexität zu managen und ein Produkt zu entwickeln, das die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden erfüllt.
Beispiel aus der Praxis: In einem agilen Team arbeiten Entwickler:innen, Produktmanager:innen und Stakeholder eng zusammen. Feedback wird regelmäßig eingeholt und in die Weiterentwicklung integriert. Entscheidungen werden im Team getroffen, um Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu gewährleisten. Dieses Zusammenspiel ist notwendig, um die Dynamik zu nutzen und sicherzustellen, dass alle an einem Strang ziehen.

Die Rolle der Energie im System

Es ist möglich, mehr Energie in das System einzubringen, beispielsweise in Form von zusätzlichen Mitarbeitenden. Allerdings erhöht sich mit der Anzahl der Mitarbeitenden auch die Komplexität und der Koordinationsaufwand. Mehr Energie muss in wertermöglichende Arbeit, also u.a. in Kommunikation und Abstimmung, gesteckt werden. Das Konfliktpotenzial nimmt zu. Es ist wichtig, diese Balance zu finden und die Prozesse so zu gestalten, dass die zusätzliche Energie nicht durch ineffiziente Abläufe verloren geht. Das muss sauber orchestriert werden.

Qualitätsreduktion als strategische Entscheidung

In bestimmten Situationen kann es sinnvoll sein, die Qualität bewusst zu reduzieren, um dem System mehr Zeit zu geben. Diese eingesparte Energie ist nicht verloren, sondern existiert in einem anderen Zustand: als Schulden. Dies können technische Schulden sein, die durch schnell entwickelte, aber nicht optimierte Lösungen entstehen. Es können organisatorische Schulden sein, die sich durch fehlende Prozesse oder unklare Verantwortlichkeiten ansammeln. Oder es können prozessuale Schulden sein, die durch ineffiziente Arbeitsabläufe entstehen. Es ist wichtig, diese Schulden transparent zu machen und einen Plan zu haben, wie sie in Zukunft abgebaut werden können. Die Reduktion der Qualität sollte immer eine bewusste und gut abgewogene Entscheidung sein, die in Einklang mit den Projektzielen steht und die Konsequenzen dieser Entscheidung berücksichtigt.

Fazit

Das Verständnis von Projekten als geschlossene Systeme hilft dir, realistische Erwartungen zu formulieren und Projektziele erfolgreicher zu erreichen. Die agile Methodik bietet einen Handlungsrahmen, um mit den gegebenen Grenzen konstruktiv umzugehen. Du lernst, Prioritäten zu setzen, dich auf die wirklich wichtigen Aufgaben zu konzentrieren und dich durch iteratives Vorgehen schrittweise dem Projektziel zu nähern. Entscheidend ist dabei immer die enge Zusammenarbeit mit dem Kunden, das tiefe Verständnis für seine Bedürfnisse und eine offene, transparente Kommunikation im Team. Denke daran, dass ein Projekt ein lebendiges System ist, das ständige Anpassung erfordert und dessen Erfolg von einem ausgewogenen Zusammenspiel aller Parameter abhängt. Die Dynamiken erfordern ständige Aufmerksamkeit und Anpassungsbereitschaft. Ein agiles Mindset ist der Schlüssel zum Erfolg in diesem dynamischen Umfeld.

[1] https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html